Kritik OVB 25. April 2007, von Margrit Jacobi
Alle sind die Angeklagten
Beeindruckende Première von „Todesurteil für den Zuschauer“ im TAM OST
Der rumänische Autor Matéï Visniec konnte auf eigene leidvolle Erfahrungen in seinem Heimatland zurückgreifen, als er sein Stück „Todesurteil für den Zuschauer“ verfasste. 1977 fing er an, für das Theater zu schreiben, doch die rumänische Zensur untersagte die folgenden zehn Jahre jede Aufführung. Visniec emigrierte nach Frankreich und schreibt seitdem seine erfolgreichen Stücke meist in französischer Sprache. Der Regisseur Stefan Vincent Schmidt hat nun zum dritten Mal ein Theaterstück des rumänischen Autors im Theater am Markt inszeniert.
Ein Gerichtssaal ist die Kulisse. Der Richtertisch steht mittig. Rechts hat der Gerichtsschreiber seinen Platz. Links ist der Zeugenstand. Während noch das Licht im Zuschauerraum brennt, bringt der Gerichtsschreiber (Hub’n Kiene) einige Male Wasser, mit dem der Richter seine Hände wäscht. Später wird er noch den Namenszug „Pilatus“ an die Wand heften. Doch wie beim Prozess Jesu ist keiner unschuldig an der Verurteilung eines Mannes, der schon vor Beginn der Verhandlung als Mörder bestimmt wurde. Dass sich der Angeklagte im Zuschauerraum befindet, gibt dem Spiel weitere Spannung. Der Staatsanwalt (Gerd Meiser) verliert bei seiner aggressiven Anklage schnellt die Kontrolle über sich, der Richter (Reinhold Torkler) weiß schon alles über den vermeintlichen Mörder, der Verteidiger (Klaus Schöberl) braucht nicht einmal ein Geständnis von ihm.
Die Verhörmethoden sind höchst absonderlich und lächerlich. Doch steckt dahinter Methode und die ist alles andere als lachhaft. Sie ist schaurig. Diese Ambivalenz, die Tragik wie die Komik, vermischen sich zu einer absurden Geschichte. Der Gerichtssaal ist zugleich ein Theater. Bereits die erste Zeugin (Gabriela Schmidt) gibt ein gelungenes Beispiel, wie Menschen verunsichert werden können. Sie wird vom Verteidiger durch provozierende Fragen nach seinem Gutdünken manipuliert. Erschreckend, wie nach und nach alle Zeugen zu Spielbällen der Justiz werden. Den Übereifer einer beflissenen Zeugin bringt Renate M. Mayer als Garderobiere anschaulich zur Geltung. Der Staatsanwalt zieht die unsinnigsten Schlussfolgerungen aus harmlosen Aussagen und schließlich eskaliert die Szene in wahnsinniger Zerstörungswut.
Reinhold Torkler besticht als Richter in verhaltenem Spiel, das die Vielschichtigkeit der Figur von der Bedächtigkeit, Listigkeit, bis zur Schroffheit und Ungeduld aufzeigt. Für den nächsten Zeugen (Hans Anker) ist der Angeklagte unsichtbar. So werden ihm Bilder desselben gezeigt, doch die Fotografien, die hinter der aufgerissenen Wand zu sehen sind, zeigen fremde Personen. Die Beweismittel sind beliebig. Dass er jede Anschuldigung schweigend erträgt, wird dem Angeklagten von Verteidiger als doppeltes Schuldgeständnis ausgelegt. Klaus Schöberl, dessen Rolle mehr die eines Anklägers, denn eines Verteidigers ist, setzt den Zynismus, die Unmenschlichkeit dieser Figur schier überdeutlich um. Doch ist sarkastische Überzeichnung ein Bestandteil dieses Stücks. Wenn der Staatsanwalt den sofortigen Tod des Angeklagten fordert, will sich keiner die Hände schmutzig machen.
Nach der Pause beeindruckt Gerd Meiser als Staatsanwalt, der auch seine eigene Schuld bekennt, denn: „Wir alle könnten an Stelle des Angeklagten stehen.“ Wenn sich Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und sogar Gerichtsschreiber genauer unter die Lupe nehmen, wird die Fadenscheinigkeit von Argumenten, die gefährliche Macht der Justiz bitterböse aufgedeckt. Jetzt ist klar: Wir sind alle gleich, also auch alle Verbrecher. „Dann bin ich ja beruhigt,“ sagt der Gerichtsschreiber, „dann sind wir eine Familie.“
Martin Thaller als weiterer Zeuge, entpuppt sich als Regisseur des ganzen Geschehens, der Zorn der Agierenden trifft ihn ebenso wie den Autor (Gerhard Sellmair). Also war die Justiz nur Marionette der beiden? Ein junger Zeuge aus dem Zuschauerraum (Manfred Altmaier) flieht entnervt, eine junge Frau (Johanna Rambeck) wartet auf das Ende der Verhandlung, beziehungsweise der Vorstellung. Plötzlich brechen durch die papierene Wand weiß geschminkte Gesichter. „Wir wollen Gerechtigkeit!“ schreien die Figuren aus dem Volk, stürmen auf die Bühne, reißen an der Robe des Richters. Gerechtigkeit, für wie viele Gerichte in unserer Welt ist sie oberstes Gebot?
Regisseur Stefan Vincent Schmidt schuf in seiner Inszenierung ein beeindruckendes dichtes Spiel mit ausgezeichneten Schauspielern, die die Figuren des Stückes packend mit Leben füllten. Das Publikum bedankte sich mit großem Applaus bei dem Regisseur und seinen Darstellern. Die Thematik dieses Theaterstücks berührt nachhaltig.
Kritik „echo“ 25. April 2007, von Margrit Jacobi
In den Fängen der Justiz
„Todesurteil für den Zuschauer“ feierte im Theater am Markt Première
Wie viele Länder gibt es auf unserer Welt, in denen die Justiz die Gerechtigkeit missachtet? Der rumänische Autor Matéï Visniec emigrierte 1987 nach Frankreich, nachdem seine Stücke 10 Jahre lang von der Zensur in seiner Heimat verboten wurden. „Todesurteil für den Zuschauer“ ist das dritte Stück des Autors, das Regisseur Stefan Vincent Schmidt für das Theater am Markt inszenierte.
In bitterböser Komik wird die Fragwürdigkeit, ja der Wahnsinn und die Unmenschlichkeit aufgedeckt, mit der im Endeffekt jeder von uns zum Angeklagten werden kann. So ist der Gerichtssaal zugleich ein Theater, in dem Staatsanwalt, Richter, Verteidiger und Gerichtsschreiber ebenso wie die viele Zeugen Rollen spielen. Der Angeklagte sitzt im Zuschauerraum, das Spiel bezieht uns gewissermaßen alle mit ein.
Wenn Schuld und Verurteilung schon von vornherein bestimmt wurden, wo bleibt da eine Chance für den Angeklagten? Die Zeugen werden mit den absonderlichsten Verhörmethoden manipuliert, das Geschehen wird zur absoluten Farce.
In der Kulisse mit Richtertisch, Zeugenstand und Platz für den Gerichtsschreiber (Hub’n Kiene) spielen sich turbulente Szenen ab. Gerd Meiser in der Rolle des Staatsanwaltes verleiht diesem die Zielstrebigkeit, mit der ein Jäger das ausgewählte Opfer erlegen wird.
Reinhold Torkler gibt der Figur des Richters der gekonnt die Mischung aus Bedächtigkeit und jähem Zorn. Klaus Schöberl als Verteidiger ist von Beginn einer, der scharfzüngig und gnadenlos zum Ankläger wird.
Es ist ebenso lächerlich wie erschreckend, mit welcher Tücke die verschiedenen Zeugen verunsichert und beeinflusst werden. In den Rollen der Zeugen, die versuchen, ernsthaft, beflissen und aufmerksam ihre Aussagen zu machen agieren Gabriela Schmidt, Renate M. Mayer, Hans Anker, Manfred Altmaier absolut überzeugend. Wenn ein Regisseur (Martin Thaller) und der Autor (Gerhard Sellmair) das Geschehen als Theaterstück offenbaren, trifft sie der Zorn der Männer, der Juristen, die sich als vorgezeichnete Figuren fühlen. Immer wieder deckt Matéï Visniec in diesem Stück die Maschinerien auf, mit denen die Justitia in vielen Ländern der Erde täglich alles andere als Gerechtigkeit walten lässt. Auch nehmen sich in einem spannenden Zwischenspiel Richter, Staatsanwalt und Verteidiger selbst unters Visier und decken so auf, dass sie ebenso Angeklagter sein könnten, genau wir jeder aus dem Zuschauerraum. Wenn am Ende Figuren aus dem Volk Gerechtigkeit fordern und auf die Bühne stürmen, ist das nur das logische Fazit der Geschichte.
In einer dichten und spannenden Inszenierung des Regisseurs Stefan Vincent Schmidt geben alle Darsteller ihren Rollen authentisch und packend Gestalt. Die Zuschauer erleben einen interessanten Theaterabend, der noch zu manchen Diskussionen Anlass geben wird.